Politisches Philosophieren
Politik ohne Philosophie ist zynisch. Philosophie ohne Politik ist belanglos. Und wer beides trennt, hat vermutlich keins von beiden verstanden.
Der Sinn von Politik ist Freiheit; und ihr Erfahrungsort ist Handlung.
Hannah Arendt
Warum man keinen Text über Politik schreiben sollte? Zu groß ist das Feld, zu anstrengend die Diskussionen, zu laut das permanente Grundrauschen aus Meinung, Meinung, Meinung. Aber wie das so ist, wenn man einmal damit anfängt, sich Gedanken über das Denken zu machen, landet man zwangsläufig dort: in der Politik - oder wie Hannah Arendt sagen würde: im Raum des Handelns.
Arendt hat das sehr schön beschrieben: Politik beginnt dort, wo Menschen in Rede und Antwort zueinander treten. Nicht da, wo Verwaltung stattfindet. Auch nicht da, wo jemand das Sagen hat. Sondern da, wo gesprochen wird. Wo diskutiert wird. Wo gestritten wird. Und, das ist der Teil, der mir wichtig ist: Wo gemeinsam gedacht wird.
Aber seien wir mal ehrlich: Die meisten politischen Debatten heute haben mit gemeinsamem Denken ungefähr so viel zu tun wie Spaß mit Java. Laut, kraftvoll, aber selten differenziert. Viel Meinung, wenig Argument. Viel Empörung, wenig Verständnis.
Für mich aber ist politisches Argumentieren nichts anderes als angewandte Philosophie. Wenn wir fragen, was gerecht ist, was Freiheit bedeutet, was Verantwortung heißt – dann philosophieren wir. Und sobald wir das gemeinsam tun, sind wir mittendrin in der Politik. Die Trennung zwischen beiden ist eine akademische, keine lebensweltliche. Im Alltag denken wir über das Gute nach, streiten über das Richtige, ringen um die besten Lösungen. Philosophie in Aktion. Politik als Denkbewegung. Gelebte Ethik.
Aber genau hier liegt das Problem: Wir leben in einer Zeit, in der das Argument in der öffentlichen Debatte zunehmend durch rhetorische Spielchen ersetzt wird. Es geht nicht mehr darum, den anderen zu verstehen oder gemeinsam eine Lösung zu finden – es geht ums Gewinnen. Um die eigene Position, die eigene Partei, das eigene Weltbild zu bestätigen. Und dafür ist jedes Mittel recht. Willkommen in der Welt der Dark Patterns.
Was schlechtes UX-Design und Debattieren (leider) gemeinsam hat
Der Begriff der Dark Patterns kommt eigentlich aus dem UX-Design 1: Manipulative Gestaltung von Nutzeroberflächen, die dich dazu bringt, etwas zu tun, das du eigentlich nicht willst. In der Politik funktioniert das ähnlich – nur eben nicht mit Buttons und Popups, sondern mit Sprache, Bildern, Erzählungen.
False Balance ist so ein Muster. Zwei Positionen werden einander gegenübergestellt – etwa Klimawissenschaft und Klimaskepsis – als wären sie gleichwertig. In der Talkshow sitzt dann auf jeder Seite ein Experte, als ginge es um einen offenen Streit unter Fachleuten. Dabei entsteht der Eindruck von Ausgewogenheit, wo in Wirklichkeit längst ein breiter wissenschaftlicher Konsens herrscht. In Wahrheit vertreten die allermeisten Klimaforscherinnen und -forscher keine Skepsis, sondern Dringlichkeit. Doch das Ergebnis dieser Informationsunterhaltung: Verwirrung. Relativierung. Und am Ende: Stillstand.
Dann ist da noch der Whataboutism. Ich sage, dass Rechtsextremismus ein Problem ist – und jemand entgegnet: „Aber was ist mit Linksextremismus?“ Oder: „Was ist mit Gewalt durch Migranten?“ Es geht dabei nie wirklich um Aufklärung. Sondern darum, ein Problem zu relativieren, es im Schatten eines anderen verschwinden zu lassen. Das Ziel ist nicht Dialog, sondern Ablenkung. Verantwortung verschieben, Diskussion abwürgen. Und das ist kein rhetorischer Trick, der nur am rechten Rand vorkommt. Auch etablierte Parteien greifen zu diesem Mittel. Man denke nur an die sogenannte Hufeisentheorie 2 einer großen deutschen Partei rechts von der Mitte – ein schönes Beispiel dafür, wie man Extreme gleichsetzt, um sich selbst nicht positionieren zu müssen.
Framing ist vielleicht das perfideste Werkzeug. Worte wie „Asyltourismus“, „Genderwahn“, „Zwangsimpfung“, „Messermänner“ schaffen ganze Welten in einem einzigen Begriff. Sie lenken unsere Emotionen, noch bevor wir einen Gedanken fassen können. Wer sie benutzt, muss nicht mehr argumentieren – das Bild ist längst im Kopf.
Das ist das Tückische am Framing: Es wirkt unterhalb der Schwelle der Reflexion. Es braucht keine Erklärung, keine Begründung, keine Zahlen. Nur ein Schlagwort, und schon beginnt der Film im Kopf. Mit klarer Rollenverteilung, mit Bösewichten und Bedrohung – und fast immer mit einer impliziten Lösung. Wer „Asyltourismus“ sagt, hat schon entschieden, dass es sich nicht um Schutzsuchende handelt. Wer „Genderwahn“ sagt, tut so, als müsse man sich gegen eine Invasion verteidigen, nicht gegen Diskriminierung. Und wer „Messermänner“ sagt, will nicht differenzieren – sondern suggeriert Gefahr, Herkunft, Schuld, alles in einem.
Framing funktioniert deshalb so gut, weil es nicht diskutiert, sondern steuert. Und weil es genau weiß, wie unser Denken abkürzt, wo es müde wird, wo es lieber ein Bild will als einen Beleg. Es ist kein Zufall, dass Populisten diese Technik so virtuos beherrschen – und keine Überraschung, dass sie sich längst durch Talkshows, Schlagzeilen und Stammtischparolen zieht.
Der Schaden: Argumente verkümmern. Sprache verengt sich. Und am Ende diskutieren wir nicht mehr über Wirklichkeit, sondern über Worte – die längst verzerrt sind, bevor wir überhaupt angefangen haben zu sprechen.
Diese Muster begegnen uns nicht nur in Talkshows oder auf Wahlplakaten. Sie schleichen sich in unsere Alltagsgespräche ein. Wenn jemand sagt: “Ich hab ja nichts gegen Ausländer, aber…”, dann ist das kein echtes Argument – das ist ein rhetorisches Giftpaket, das schon beim Auspacken lügt.
Und das Erschreckende ist: Selbst wenn wir die Muster kennen, sogar wenn wir sie bewusst erkennen – sie wirken trotzdem. Wir lesen etwas, zucken innerlich, nicken vielleicht, obwohl wir wissen, dass wir gerade manipuliert werden. Auch das haben die politischen Diskussionen mit den UX Dark Pattern gemeinsam:
I am Definitely Manipulated, Even When I am Aware of it. It’s Ridiculous!
Quelle: Paper
Irgendwie beschreibt das ziemlich gut, wie es sich anfühlt, in einer Welt voller Dark Patterns zu argumentieren.
Und genau deshalb reicht es nicht, diese Muster nur zu durchschauen – wir müssen sie benennen, entlarven, und ihnen etwas entgegensetzen.
How-Not-To-Be-Manipulated
Für Diskussionen. Für Kommentarspalten. Im eigenen Kopf.
- Nach dem Ziel fragen: Was will die Aussage erreichen? Soll sie klären oder spalten?
- Auf Sprache achten: Wird emotionalisiert? Wird verallgemeinert? Wird unterstellt?
- Die Quelle hinterfragen: Wer sagt das – und warum?
- Sich Zeit nehmen: Gute Argumente brauchen Raum. Manipulation lebt von Tempo.
Und wenn ich mich dann sicherer fühle – wenn ich die rhetorischen Fallstricke erkenne, mein eigenes Bauchgefühl erst nehmen – dann beginnt der zweite, schönere Teil: Ich wende Light Patterns an.
Was politisches Debattieren von gutem UX-Design lernen kann
Im UX-Design gibt es nicht nur Dark Patterns, sondern auch Light Patterns. Diese sind entscheidend für eine positive Kommunikation und können dazu beitragen, Meinungen zu vermitteln und zu verstehen.
Ich finde, Daniel Dennett hat das sehr schön aufgeschrieben. In seinen vier Regeln für kluges, wohlwollendes Kritisieren:
- Du solltest die Position deines Gegenübers so klar, lebendig und fair wiedergeben, dass sie sagen: “Danke, so gut hätte ich es selbst nicht ausdrücken können.”
- Du solltest Punkte der Übereinstimmung benennen – vor allem, wenn sie nicht selbstverständlich sind.
- Du solltest sagen, was du vom Gegenüber gelernt hast.
- Erst dann darfst du widersprechen.
Das ist keine Kuschelrhetorik. Das ist radikale Höflichkeit. Und die braucht mehr Mut als jedes verbale Draufhauen.
Aber was ist mit den Gesprächen, die gar keine mehr sein wollen? Wenn sich jemand komplett verweigert – Fakten ablehnt, lieber Meinung als Argumente teilt, mit einer Mischung aus Wut, Zynismus und Parolen um sich wirft?
Gerade in solchen Momenten wird mir bewusst, wie wichtig es ist, bei mir zu bleiben. Nicht zu schweigen, nicht wegzusehen – sondern klar zu machen, wofür ich stehe. Nicht in der Hoffnung, sofort etwas zu verändern.
Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Kunst ist nicht Hässlichkeit, sondern Gleichgültigkeit. Und das Gegenteil von Leben ist nicht Tod, sondern Gleichgültigkeit.
Elie Wiesel
Das heißt nicht, dass ich jede Diskussion führe. Manche drehen sich im Kreis, manche wollen gar keinen Austausch. Und manche setzen ihre eigene Sprache so absolut, dass kein Gespräch mehr möglich ist. Aber auch dann muss ich ruhig bleiben – ohne nachzugeben. Ich muss ihre Begriffe nicht übernehmen, muss nicht die Denkarchitektur anderer stützen, nur weil ich darin widerspreche.
Denn Sprache ist nie neutral. Sie ist nie nur Werkzeug, sie ist immer auch Weltbild. Elisabeth Wehling beschreibt das sehr eindrücklich: Worte schaffen Räume. Und wer die Begriffe der anderen übernimmt – selbst in der Absicht, ihnen zu widersprechen – steht oft schon mit einem Bein im falschen Haus. Ich kann den Begriff „Genderwahn“ ablehnen, aber wenn ich ihn ausspreche, denke ich ihn mit. Und das prägt, subtil, leise, nachhaltig. Deshalb geht es nicht nur darum, was ich kritisiere – sondern mit welchen Worten ich das tue. Sprache ist nicht bloß Medium, sie ist bereits Haltung.
Aber Sprache allein reicht nicht. Es geht nicht nur darum, welche Begriffe ich verwende – sondern auch, wie ich mich im Gespräch bewege. Was ich voraussetze. Was ich hören will. Und was ich bereit bin zu verstehen. Daniel Dennett sagt es sehr treffend: Es geht beim Argumentieren nicht darum, zu gewinnen, sondern darum, zu verstehen, wie der andere denkt – selbst wenn man das Ergebnis dieses Denkens ablehnt. Gerade dieses Verstehenwollen ist für mich ein Schutz gegen den eigenen Zynismus, der sich schnell einschleicht.
Denn wer nur noch Widerspruch erwartet, hört irgendwann gar nicht mehr hin. Und wer sich nur noch abgrenzt, verliert das Gefühl dafür, wofür er eigentlich steht. Aber es gibt Grenzen – und an denen will ich nicht einfach vorbeisehen. Gerade dort, wo Menschen ausgegrenzt, verächtlich gemacht oder angegriffen werden, ist es mir wichtig, Nein zu sagen. Deutlich. Unmissverständlich. Nicht, weil es etwas Besonderes ist – sondern weil es dazugehört. Haltung zeigen ist kein Extra, sondern Grundvoraussetzung. Punkt.
Und das ist ganz im Sinne der Meinungsfreiheit – die ja oft von autoritären Kräften als Schutzschild gegen Widerspruch missbraucht wird. Dabei gilt genau das Gegenteil: Wer sich auf Meinungsfreiheit beruft, muss auch aushalten, dass andere widersprechen. Freiheit bedeutet nicht, dass niemand etwas entgegnet – sie bedeutet, dass niemand zum Schweigen gebracht wird. Und sie endet dort, wo Worte nicht mehr Meinung sind, sondern Menschen entmenschlichen. Wo sie Gewalt vorbereiten. Oder rechtfertigen. Oder leugnen.
Meinungsfreiheit schützt vor dem Staat – nicht vor Kritik. Und schon gar nicht vor Verantwortung.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Es reicht aber nicht, wenn nur der Staat diese Verpflichtung ernst nimmt. Auch wir, in unseren Gesprächen, Kommentaren, Argumenten – wir tragen Verantwortung. Eine Diskussion sollte immer die Würde des Menschen waren. Die derer, über die wir sprechen – aber auch die derer, mit denen wir sprechen. Selbst wenn unser Gegenüber das nicht tut. Gerade dann.
Denn wer die Würde des anderen vergisst, hat schon verloren – nicht nur ein Gespräch, sondern auch die eigene Haltung.
Persönliches Fazit
Politik ist gelebte Philosophie. Sie ist Denken mit der Konsequenz das es mein Leben auf Arten beeinflusst die ich vllt gar nicht abschätzen kann. Sie ist Argumentieren mit Konsequenzen. Und sie ist der Ort, an dem wir über unser Zusammenleben verhandeln. Was könnte philosophischer sein?
Und genau deshalb möchte ich, dass wir politisch wieder mehr philosophisch argumentieren. Nicht abgehoben. Sondern mutig, ehrlich und mit Lust auf Erkenntnis.
Denn wenn wir das nicht tun, bleiben am Ende nur isolierte Meinungen - und davon gibt es schon genug.
Footnotes
-
UX-Design steht für User Experience Design – also die Gestaltung von Nutzererfahrungen in digitalen Produkten und Diensten. Es geht darum, Bedienung intuitiv, effizient und angenehm zu machen. Doch „gut“ ist hier relativ: Auch Dark Patterns sind streng genommen gutes Design – sie erfüllen ihren Zweck. Nur eben nicht zu deinem Vorteil, sondern zum Nutzen der Firma, deren Produkt du gerade nutzt. Oder, je nach Perspektive: bist. ↩
-
Die Hufeisentheorie behauptet, dass politische Extreme – links und rechts – einander näher seien als der politischen Mitte. Klingt erstmal ausgewogen, ist aber problematisch: Sie setzt autoritären Nationalismus mit emanzipatorischer Kapitalismuskritik gleich und verschiebt damit die politische Verantwortung; „Ob Links- oder Rechtsterrorismus – da sehe ich keinen Unterschied.“ „Doch, doch“, ruft das Känguru, „die einen zünden Ausländer an, die anderen Autos. Und Autos sind schlimmer, denn es hätte meines sein können. Ausländer besitze ich keine.“ (Marc-Uwe Kling, Die Känguru-Offenbarung) ↩